Chefinfo Magazin 3-23

Der Komplexitätsforscher Luca Dellanna hat vor Kurzem einen interessanten Vergleich zum festgesetzten Verbot von fossilen Brennstoffen für Neuwagen im Jahr 2035 in Europa gezogen. Der Wissenschaftler findet die Idee umweltfreundlicher Autos zwar gut, ist aber von einer schnellen und vollständigen Umstellung nicht angetan. Er bringt die Olympischen Sommerspiele als Metapher ins Spiel – eine Megaveranstaltung, deren Budget regelmäßig um durchschnittlich 213 Prozent überschritten wird. Sie sind das einzige infrastrukturelle Megaprojekt, bei dem es aus einem einzigen Grund zu Kostenüberschreitungen kommt: Unausweichliche Fristen. Sie führen zu überstürzten Handlungen und damit zu Kostenexplosionen. Dellanna fürchtet, dass ein künstlicher Termin für die Dekarbonisierung der Mobilität ein ähnlich teures Chaos bei der Stromversorgung verursachen könnte. Und nicht nur in diesemBereich. Man kappt die Lebensadern einer ganzen Zulieferindustrie und nimmt in Kauf, dass eine gesamte Raffinerie- und Tankinfrastruktur verkümmert. Warum muss jeder unbedingt ein Elektroauto haben? Warum sollte eine wertvolle Batterie an jemanden verschwendet werden, der nur 100 Kilometer pro Woche fährt? Und kann es nicht sein, dass aufgrund dieser Gesetzgebung EU-Bürger länger an ihren alten Autos festhalten, was für Umwelt und Klima negativer ist, als wenn sie die Möglichkeit hätten, effizientere konventionelle Autos zu kaufen? Besser technologieoffen Das sind Fragen, mit denen sich Gerhard Meister, Vize-Chef der Elektrifizierungssparte bei AVL List, auseinandersetzt. Das Unternehmen entwickelt für Automobilhersteller Antriebssysteme, deren Komponenten und integriert sie in Fahrzeuge. Früher standen nur Verbrenner im Zentrum, heute FOTOS: KOLONKO / VKULIEVA / PSYCHOBEARD / ISTOCK / GETTY IMAGES PLUS, AVL GRAZ COVERSTORY 16 | CHEFINFO | 3/2023 TECHNIK. AVL List beschäftigt 11.200 Mitarbeiter und erarbeitete sich mit Motorenoptimierung sowie der Entwicklung von Antriebstechnologien globale Kompetenz. CHEFINFO: Wie wichtig ist der Bereich E-Mobilität bei AVL und womit beschäftigen Sie sich in diesem Bereich? Gerhard Meister: Die E-Mobilität deckt mittlerweile die Mehrheit unseres Geschäfts ab und es zeichnet sich hier starkes weiteres Wachstum ab. Somit haben sich die E-Mobilität und alle weiterenThemen rund um erneuerbare Energieerzeugung und Umsetzung mittlerweile zum Kerngeschäft entwickelt. Mit 2.200 lebenden Patenten gehört AVL zu den österreichischen Innovationsführern. Bei zwei Drittel der Neuanmeldungen 2022 handelt es sich um Entwicklungen im Bereich Elektrifizierung. Die traditionelle Autoindustrie stellt in einemKraftakt die Produktion auf E-Antriebe um. Wie beurteilen Sie deren Fortschritt? Meister: Es ist auch im Bereich der E-Mobilität ein globaler Wettbewerb entstanden. Im Gegensatz zu den konventionellen Antrieben hat hier Europa verspätet gestartet. Manmacht mittlerweile große Fortschritte, aber kostenseitig ist noch aufzuholen. Auch das Thema der Abhängigkeit von Rohstoffen gilt es konsequent zu managen. Dieser Kraftakt muss von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Regularien begleitet sein, die diese Transformation unterstützen. Es steht hier sehr viel am Spiel für die gesamte Industrie. Nachdem es hier um das ultimative Ziel der Nachhaltigkeit geht, können wir es uns nicht leisten, in dieser Entwicklung zurückzufallen. Namhafte Experten sehen die E-Mobilität als ein vorübergehendes Phänomen. Sie auch? Meister: Es gibt zu diesemThema viele Stimmen und Meinungen, die sich auch auf durchaus fundiertes technisches Verständnis stützen. Nichtsdestotrotz ist die Effizienz der batterieelektrischen Antriebe, wo wir vom Strom aus – hoffentlich – nachhaltiger Erzeugung bis zum Rad einen Wirkungsgrad von 70 bis 80 Prozent darstellen können, ungeschlagen und um ein Mehrfaches besser als bei allen Alternativen. Das bedeutet, dass man dort, wo das möglich ist, diese effiziente Antriebsform nützen sollte, da sie den Bedarf an Strom aus der so wertvollen Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen am wenigsten belastet. Welche Bedeutung hat der Softwarebereich für AVL? Meister: Das Thema Software spielt im Fahrzeug eine gewaltige Rolle. Fortschreitende Vernetzung und der immer weiter wachsende Umfang an elektronischen Funktionen einschließlich Fahrassistenzsystemen eröffnet neue Möglichkeiten zur Wertschöpfung. Wir bewegen uns in die Richtung des funktions- bzw. softwaredefinierten Fahrzeugs mit hochintegrierten elektrischen und elektronischen Systemen. Bei AVL stellt Software eine der wesentlichsten Säulen der Wertschöpfung dar, da die Vielzahl von Fahrzeugfunktionen eine entsprechende Steuerungssoftware benötigt. Wir beschäftigen mehrere Tausend Mitarbeiter weltweit im Bereich der Softwareentwicklung. Die Vernetzung des Fahrzeugs und moderne Fahrassistenzsysteme sind aber nicht abhängig vom Antriebssystem. „E-Mobilität ist mittlerweile unser Kerngeschäft“ COVERSTORY 3/2023 | CHEFINFO | 17 Es steht hier sehr viel am Spiel für die gesamte Industrie. Nachdem es hier um das ultimative Ziel der Nachhaltigkeit geht, können wir es uns nicht leisten, in dieser Entwicklung zurückzufallen. Gerhard Meister Vice President Electrification AVL Graz Gerhard Meister Vice President Electrification, AVL List 19 Prozent der im Februar neu zugelassenen Pkw in Österreich sind E-Autos. 1.500 E-Ladestationen will die Asfinag an den heimischen Autobahnen bis 2035 bereitstellen. 15.663 E-Ladepunkte sind österreichweit bereits jetzt im Einsatz. Ô

RkJQdWJsaXNoZXIy NzkxMTU1